Zwei Ukrainer spielen jetzt in Deutschland
Musik: Die Violinistin Oksana Barytska und der Bratschist Vadim Korystin sind im Frühsommer geflohen – Familie zurückgelassen – Konzert in Aschaffenburg im Oktober
Main-Echo | BETTINA KNELLER
Sie spielt Geige, er spielt Bratsche. Sie ist 50, er 51. Sie kennen sich seit der Schulzeit und haben seit dieser Zeit zusammen musiziert. Waren engagiert in renommierten Orchestern. Haben weltweit Konzerte gegeben. Außer in Russland. Sie hat zudem Kindern in der Musikschule Musikunterricht gegeben. Und dann plötzlich bricht von einem Moment auf den anderen dieses Leben weg. Aus und vorbei. Weil sie sich beide zu einem folgenschweren Schritt entschlossen haben. Ein mutiger Schritt. Ein Schritt ins Ungewisse. Sie sind aus ihrer Heimat weggegangen. Weil dort Krieg herrscht. Weil dort das Arbeiten in diesem mehr und mehr zerstörten Land immer weniger Sinn gemacht hat.
Die Violinistin Oksana Barytska und ihr Mann, der Bratschist Vadim Korystin, sitzen in dem Videointerview nebeneinander. Vadim hält Oksana im Arm. Er ist der ruhige, sie die temperamentvolle. Zwei Künstler, die die Musik lieben. Zwei Künstler, die ihre Instrumente lieben. Auf die Frage, was sie auf ihrer Flucht aus der Westukraine mitgenommen haben, sagen beide auf den Punkt und wie aus einem Mund: unsere Instrumente. Natürlich. Sie stehen für ihre Leidenschaft. Sie stehen für ihren Beruf. Ihre Berufung. Denn Musik machen, das sagen beide, das wollten sie schon sehr früh.
Der Traum zu unterrichten
Als Vadim sechs Jahre alt ist, bringt ihn sein Vater zur Musikschule, wo er zuerst Geige spielen lernt. Die ein Jahr jüngere Oksana stammt aus einer Musikerfamilie. Schon mit drei Jahren weiß sie, dass sie unbedingt Musikerin werden will. Da hatte sie schon den Traum, am Konservatorium unterrichten zu wollen. Wenn andere Kinder Märchen hörten, erzählt die 50-Jährige, bekam sie Musik von Chopin oder anderen Komponisten vorgespielt. Das prägt. Und weckt den Wunsch, diese Freude, diese Leidenschaft anderen näher zu bringen.
Auf der Marinskij Akademie haben sie beide Musik studiert. Dort haben sie sich kennengelernt. Oksana Barytska war auch noch auf der Musikakademie in Lwiw und hat diese abgeschlossen. Geheiratet haben sie dann 1994. Seit dieser Zeit haben sie zusammen in Orchestern gespielt. Ihre letzte Station war das Czernowitzer Sinfonieorchester. Neben ihrer Konzerttätigkeit arbeitet Oksana Barytska auch seit 25 Jahren als Lehrerin – zuletzt in der Musikschule von Czernowitz.
Im Februar dieses Jahres dann brach der Krieg aus. Im Mai kam erst Oksana, im Juni dann Vadim nach Deutschland. Wie sie geflohen sind, wer ihnen geholfen hat, was sie erlebt haben dabei: Darüber wollen sie nicht sprechen. Um andere nicht zu gefährden, die sie unterstützt haben. Und auch, um nicht jene vor den Kopf zu stoßen, die in der Ukraine nach wie vor ausharren mitten im Krieg.
Konzert in Frankfurt
Derzeit wohnen sie bei Freunden im nordhessischen Butzbach. Da die Freunde auch Musiker sind, gab es gleich ein Netzwerk um sie herum, das sie auffing – und führte dazu, dass sie schon Konzerte in Frankfurt und Düsseldorf gespielt haben. Ein Stückchen Normalität in einem Alltag, in dem kaum etwas vertraut ist. Und in dem man alles neu finden und organisieren muss.
Dass sie eines Tages fliehen müssten, darauf waren sie schon lange vorbereitet worden. Und sie hatten auch damit gerechnet. Oksana hatte mit ihren Schülern in der Musikschule regelmäßig Evakuierungen geübt. Überall hingen Plakate in der Schule, die zeigten, wie man sich bei einem Angriff verhält. Oder wo der nächste Luftschutzkeller zu finden ist. Sie haben auch gelernt, wie man einen Notfallrucksack packt und was da alles reingehört. Eine solche Tasche mit dem Nötigsten stand schon lange in der Wohnung der Familie bereit. Und dennoch sei der Tag, an dem sie wirklich gingen, sehr irreal gewesen. Auch weil sie Familie in der Ukraine zurückließen: Oksanas Vater und Vadims Mutter blieben dort. Warum sie nicht mit ihnen kamen, wissen die beiden nicht. Auch die Schwester Oksanas mit ihren Kindern ist noch in der Heimat geblieben. Ein Fotoalbum mit Familienfotos haben sie nicht mitgebracht. Sie haben es in der Aufregung einfach vergessen. Den Kontakt nach Zuhause halten sie via Internet. Immerhin. Auch Oksanas Schüler sind durch den Krieg überallhin verstreut worden. Trotzdem unterrichtet sie sie weiterhin digital.
Musik als Halt und Stütze
Die Stadt Butzbach hat den beiden einen Übungsraum zur Verfügung gestellt. Vadim zeigt die Instrumente der beiden, hält erst Oksanas Geige hoch, dann seine Bratsche. Noten sind auf Notenständern verteilt. Die Musik ist der Halt, die Stütze in diesen schwierigen Zeiten. Was sie vermissen? Die ukrainische Küche und guten Kaffee. Inzwischen haben sie wenigstens ein Café in Frankfurt in der Nähe der Hochschule für Darstellende Kunst und Musik gefunden, wo sie einen guten italienischen Kaffee bekommen. Vor einem Auftritt sind sie letztens extra dorthin gefahren.
Ob sie eines Tages in die Ukraine zurückkehren? Sie sehen sich beide an, überlegen. Oksana greift nach Vadims Hand. Das sehen beide mit eher mit gemischten Gefühlen. Natürlich haben sie Heimweh, aber sie sehen auch, welche Aufgaben in Deutschland auf sie warten. Als Pädagogin möchte Oksana Musik und die Freude am Spielen weitergeben. Aber die Musikschule in der Ukraine, an der sie unterrichtet, hat den Vertrag gerade ausgesetzt. Dennoch, sagt sie, will sie das Schicksal annehmen, wie auch immer das aussehen wird. Und wo auch immer ihre Zukunft liegen wird.
Musik sei wie Atmen, so Vadim. Und Oksana nickt dazu. Das gebe ihnen Kraft und verleihe ihnen die Balance, die sie brauchen.
Main-Echo 17.9.2022